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Darf ich das sagen? Meinungsfreiheit erklärt

Eigentlich entspringt die Redewendung “Den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen” einer Verhöhnung des Dichters Christoph Wieland gegenüber den Philosophen, die nicht in der Lage wären, seines Werkes wahre Bedeutung zu ergründen. Zu versessen auf kleine Details verloren sie den Blick fürs große Ganze aus den Augen. Doch dieser Umstand muss nicht selbstverschuldet sein, er kann auch herbeigeführt werden. 

Die Kernbotschaft des gegenwärtigen FPÖ-Programms lässt sich wie folgt zusammenfassen: ‘Die Mächtigen, selbsternannte globalistische, politische und wirtschaftliche Eliten aller Nationen, haben sich undemokratisch in supranationalen Organisationen zusammengefunden, um uns zu beherrschen. Das System kontrolliert Entscheidungsträger: innen wie Marionetten und setzt ihre Maßnahmen und Rezepte durch. Klimawandel, Asylpolitik, Genderwahn lassen sich zurückführen auf Überwachung, Zensur und Diktat.’

Kurz durchatmen: für den anstehenden Wahlkampf gilt es gewappnet zu sein. Wieland darf die Philosophen seiner Zeit noch so verhöhnen, gegenüber der Begriffsschwemme einer durchschnittlichen FPÖ-Informationskampagne hilft ihre Kleinteiligkeit allemal. In Bezug auf die Meinungsfreiheit bedeutet das, der Reihe nach folgende Fragen zu beantworten. Was ist Meinungsfreiheit? Wie lässt sie sich begründen? Und wie können sich politische Akteur: innen sinnvoll auf sie berufen?

Also, was ist Meinungsfreiheit?

Die Meinungsfreiheit ist ein in den Verfassungen liberaler Demokratien festgeschriebenes Grundrecht. In Österreich über die auf Verfassungsrang erhobene Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Artikel 10, in einer anderen liberalen Demokratie, den Vereinigten Staaten selbstverständlich im ‚First Amendment‘ und in Deutschland im Grundgesetz Artikel 5. Diese legen in unterschiedlichen Formulierungen den allgemeinen Anspruch aller auf das Recht, dessen genauere Dimensionen und mögliche Beschränkungen fest. 

Gesetzestext vom „Rechtsinformationssystem des Bundes“, Abruf 3.07, 13:27.

  1. Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Dieser Artikel schließt nicht aus, daß die Staaten Rundfunk-, Lichtspiel- oder Fernsehunternehmen einem Genehmigungsverfahren unterwerfen 
  2. Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten.

Die Spanne der Meinungsfreiheit ist hierbei grundsätzlich gesehen relativ weit – zumindest solange es sich beim Geäußerten tatsächlich um eine Meinung und nicht das bloße Verbreiten von Unwahrheiten handelt. In diesen Fällen gibt es Beschränkungen des freien Ausdrucks, der eben nicht immer Ausübung der Meinungsfreiheit bedeutet. Die Interpretation findet durch die Gerichte auf allen Ebenen, inklusive des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) statt. 

Das Recht auf Meinungsfreiheit findet demnach Ausdruck in bestimmten Grundsätzen, ist aber bezüglich seiner Ausübung in spezifischen Fällen an die Rechtsauslegung jeweiliger Gerichte gebunden, die wiederum einen Einfluss auf unser Verständnis dieser Axiome haben kann. Unumstößlich ist dabei, wie der politische Philosoph Hillel Steiner betont, die Vereinbarkeit einzelner Rechte miteinander. In unserem Falle ist hierbei Artikel 17 EMRK ausschlaggebend, welcher den missbräuchlichen Einsatz eines Rechtes wie der Meinungsfreiheit gegen ein anderes grundsätzlich verbietet. 

Auffällig ist, dass sich vor allem populistische Bewegungen und Parteien über das Thema Meinungsfreiheit profilieren, obwohl grundsätzlich alle daran Interesse haben. Doch für diese ist die gesetzlich garantierte Meinungsfreiheit entweder akut bedroht oder in einigen Angelegenheiten längst nur Schein.

Normative Begründung der Meinungsfreiheit

Um zu verstehen, wie sich das argumentieren lassen könnte, ist ein Verständnis verschiedener Konzeptionen des Rechts wichtig. Denn vor allem Grundrechte wie die Meinungsfreiheit sind nicht nur als Gesetze in unseren Gesellschaften wirkmächtig, sondern vielfach auch als handlungsanleitende moralische und politische Werte. Aus diesem Blickwinkel der über die Funktionalität einer Verfassung hinausgeht, ist dann die spezifische Begründung des Rechts auf Meinungsfreiheit und sein Verhältnis zu anderen Grundrechten wichtig. Diese normative Begründung der Meinungsfreiheit kann je nach Interpretation zur Legitimation unterschiedlicher, teils transgressiver und sogar illegaler Aussagen oder Handlungen führen.

So kann dem Rechtswissenschaftler Eric Barendt zufolge die Meinungsfreiheit durch vier verschiedene Argumente begründet werden; einem ersten zufolge hat sie inhärenten Wert, da die Möglichkeit zur Deliberation eine Gesellschaft näher an das Erkennen von Wahrheiten führt, ein zweites Argument sieht die freie Meinungsäußerung selbst als Akt der individuellen Selbstverwirklichung, ein noch anderes erkennt es aus dezidiert politischer Perspektive als Bedingung der effektiven Teilnahme von Bürgern an Demokratien und ein letztes erkennt Meinungsfreiheit aus generellem Verdacht vor der Macht und Meinungspolitik jeglichen Staates als notwendiges Gegengewicht.

Es ist durchaus möglich, rechtspopulistische Diskurse zur Meinungsfreiheit als basierend auf dieser letzten negativen Begründung aufzufassen. Barendt selbst warnt jedoch davor, dass sie in ihrer Negativität keinen eigenen, ausgereiften Vorschlag zur Begrenzung der Meinungsfreiheit liefern kann. Auf der anderen Seite, so der Rechtswissenschaftler, sei die Meinungsfreiheit ein zu kostbares Gut, um sie dem freien Spiel ökonomischer und politischer Kräfte zu überlassen. 

Politische Aspekte der Meinungsfreiheit

Die nächste Frage, die sich aus dem Blick über verfassungsrechtliche Angelegenheiten hinaus ergibt, ist die des Verhältnisses des Rechts auf Meinungsfreiheit mit anderen Grundrechten, wie beispielsweise dem Recht auf Eigentum, dem Vertragsrecht, oder dem Recht zur freien Versammlung und zum Protest. 

Dabei handelt es sich um politische Setzungen, die von Land zu Land und zwischen Akteur: innen oder staatlichen Instanzen verschieden interpretiert werden können. Die entscheidende Aspekt hier ist, ob die jeweilige Interpretation eine gute Begründung findet, also ihr entsprechende Aussagen und Handlungen legitimieren kann. 

So erkennt eine liberale Interpretation zumeist keinen Konflikt im Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten. Die Etablierung formaler Bürgerrechte führt dieser Ansicht zufolge zu einer Kaskade von Entwicklungen, die gesellschaftliche Freiheiten maximieren und sich gegenseitig ausbalancieren. 

Diese Perspektive ist eine völlig andere als die von radikalen sozialen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung, deren Vertreter in der Ausübung bestimmter formaler Grundrechte wie dem Arbeits- und Vertragsrecht nicht nur allgemeine Freiheitsbeschränkungen erkannten, sondern auch spezifisch im Bereich der Meinungsfreiheit. Während liberale Kräfte Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert argumentieren, dass die Etablierung der Meinungsfreiheit als formales Recht wirkmächtig sei, wiesen radikale Gewerkschaftsbewegungen in Europa, Nord- und Südamerika vielfach darauf hin, dass Arbeiter: innen am Arbeitsplatz und darüber hinaus aufgrund der Gesetzeslage und ihrer Lohnabhängigkeit nicht in der Lage waren, von ihren Grundrechten und auch der Meinungsfreiheit effektiv zu nutzen. 

Dieses Thema hat, wie die Philosophin Elizabeth Anderson in ihrem Buch ‘Private Government’ aufgreift, bis heute kaum an Relevanz verloren. Sie stellt heraus wie der liberale Gedanke, der Arbeitsplatz sei eine private und nicht öffentliche Sphäre dazu führt, dass Arbeitgeber sich, natürlich in einem begrenzten Rahmen, wie Diktatoren kommunistischer Regime aufführen können – ein Phänomen, welches der Erfahrung von Freiheiten wie der Meinungsfreiheit für Angestellte abträglich ist. 

Wann sind Auseinandersetzungen um die Meinungsfreiheit legitimierbar?

Politisch begründbar sind Polemiken und Kämpfe für mehr Meinungsfreiheit im Kontext liberaler Demokratien also allemal. Ein konkretes Beispiel dafür sind die ‚free-speech-fights‘ der Gewerkschaftsbewegung International Workers of the World (IWW) zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die oft durch illegale Formen freier Meinungsäußerung und dennoch legitimerweise gegen gesellschaftliche Missstände in der Lohnarbeit gekämpft haben. Ihre öffentlichen Aufrufe zum Protest hatten die Doppelfunktion, zum einen auf die konkreten Missstände in ihren Arbeitsverhältnissen selber hinzuweisen, und zum anderen auch auf die Unterdrückung ihres Rechts zur freien Meinungsäußerung. 

Wichtig ist dabei, dass die Gewerkschaft in ihrer Legitimation dieses sozialen Konfliktes auf konkrete, kausale Zusammenhänge wie zum Beispiel das Machtgefälle zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hinwies und sich gleichzeitig selbst die bedingungslose Anerkennung des Rechts auf Meinungsfreiheit bewahrte – wohlgemerkt als politischen Wert. 

Beides ist für eine begründete Auseinandersetzung mit dem Thema Meinungsfreiheit, die entsprechende Diskurse und Handlungen legitimieren kann, notwendige Voraussetzung. An diesem Punkt bewahrheitet sich auch Barendts Sorge um rein negative Diskurse rund um die Meinungsfreiheit: sie sind weder in der Lage, eine konstruktive Kritik an bestehenden Strukturen zu äußern, noch eine realistische Alternative zur Verbesserung der Lage zu liefern. 

Schluß.

Die Meinungsfreiheit ist in demokratischen Staaten gesichert durch die Rechtsordnung und den konstitutionellen Staat. Es muss also nicht immer gleich um die Meinungsfreiheit gekämpft werden, um einen positiven Beitrag in ihrem Sinne zu leisten. Aber von denjenigen, die versuchen, ihre Politik über Auseinandersetzungen mit Meinungsfreiheit zu profilieren, lässt sich erwarten, dass ein eindeutig erkennbarer Beitrag zur Ausübung dieses Rechtes geleistet wird. Wie wir in einem weiteren floo.Artikel ausführen werden, ist das für den Fall rechtspopulistischer Programmpunkte wie der von FPÖ oder AfD stark zu bezweifeln.