Achtung Triggerwarnung
In diesem Artikel behandelte Themen beinhalten Mord, Gewalt, Vergewaltigung.
Vor 42 Jahren ereignete sich ein grausames Verbrechen, das die Medien bis vor kurzem immer wieder beschäftigte: Der Fall Frederike von Möhlmann. Sie ist ein siebzehnjähriges Mädchen, das nach der Chorprobe in ihr 10 Kilometer entferntes Heimatdorf muss. Niemand kann sie abholen, also fährt sie – wie so oft schon – per Anhalter. Doch daheim kommt sie niemals an, ihre Leiche wird vier Tage später in einem Waldstück nahe ihres Heimatdorfes gefunden, vergewaltigt und daraufhin brutal niedergemetzelt (Friedrichsen, 2015).
Beginn der Ermittlungen
Die Ermittlungen beginnen kurz darauf: Ein Verdächtiger wird gefasst, man findet eindeutige Spuren von seinem Auto am Tatort und an der Leiche, alles scheint klar, Ismet H. Wird zu lebenslang verurteilt. Damit findet sich der vermeintliche Täter jedoch nicht ab, er geht kurz darauf in Revision. Und tatsächlich: Beim erneuten Aufrollen des Falles reichen dem Richter die Beweise nicht mehr aus um sicherzugehen, dass Ismet H. wirklich der Mörder von Frederike wäre.
„Die Beweisaufnahme hat keinerlei Hinweis dahin ergeben«, heißt es in diesem Urteil, »dass sich der Angeklagte zum Tatzeitpunkt am Tatort befunden hat.«“ ( Friedrichsen, 2015, Z. 128-30). Das darauffolgende Urteil: Freigesprochen.
Neue Beweismittel im Fall Frederike von Möhlmann
Als aber Ende der 80er Jahre DNA-Analysen als Beweismittel vor Gericht zugelassen werden, beantragt Möhlmann direkt eine Analyse an den Beweisstücken seiner Tochter. 2012, also sehr viel später, erhält man die Ergebnisse, und sie sind bahnbrechend: An der Kleidung von Frederike von Möhlmann werden Sperma-Spuren gefunden, die mit den DNA- Spuren des mutmaßlichen Täters übereinstimmen (Horst, 2022). Die Beweise sind nun handfest, man kann zu 100% davon ausgehen, dass Ismet H. Der Täter war, also werde er einfach erneut angeklagt, diesmal mit den richtigen Beweisstücken, und dann endlich lebenslang hinter Gitter gebracht. So stellte man sich das vor.
Doch ein kleiner Artikel im deutschen Grundgesetz verhindert dieses Vorhaben: Im Artikel 103, Absatz 3 steht geschrieben: „Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“ ( GG, 2022, Art.103, Abs. 3) (StPo, 2021, §362, Abs. 1-3)
180.000 Unterschriften
Wie also weiter vorgehen? Frederikes Vater startet eine Petition und sammelt mehr als 180.000 Unterschriften, die 2021 zu einem Gesetzesentwurf führen, die alte Regierung verabschiedet ein neues Gesetz (Möhlmann, 2015): Es sind jetzt erneute Anklagen möglich, „wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der Freigesprochene Angeklagte verurteilt wird“ (StPo, 2021, §362, Abs. 5).
Möhlmann zeigt sich zuversichtlich, doch es gibt viele Bedenken und Kritik zur neuen Gesetzesänderung: Man folgt hier dem Grundsatz „ne bis in idem“, es dürfe nicht zweimal in derselben Sache verhandelt werden (Fiebig, 2023). In Frederikes Fall würde die Gesetzesänderung endlich für Gerechtigkeit sorgen, jedoch könnte sie in anderen Fällen das genaue Gegenteil bewirken. Das Grundgesetz kann so eine Ausnahme auch in Frederikes Fall nicht zulassen, nicht einmal dann, wenn es neue Spuren oder Beweismittel gibt. Die Rechtssicherheit geht vor, Freigesprochene sollten nicht in der ständigen Angst leben müssen, erneut angeklagt werden zu können.
Trotz aller Bedenken wird das Gesetz 2022 erlassen. Ismet H. kommt in Untersuchungshaft und wird erneut angeklagt, reicht jedoch daraufhin Verfassungsbeschwerde ein, die neue Regelung verstoße gegen das Grundgesetz. Also kommt der Fall vor das Landgericht in Karlsruhe, und nach fünf Monaten steht die Entscheidung fest: Ja, die Gesetzesänderung ist verfassungswidrig. Der Prozess gegen Ismet H. wird daraufhin umgehend eingestellt (Klinger, 2023).
Was soll der Staat tun?
Es ist also nicht möglich, einen Mörder, gegen den handfeste Beweise vorliegen, hinter Gitter zu bringen. Diese schwerwiegenden Indizien hätten zu der Zeit des Prozesses gegen Ismet H. nicht einmal vorliegen können, da es technisch noch nicht möglich war.
Doch was kann der deutsche Staat in solchen Fällen tun? Es ist schon fast ironisch, wie viel Ungerechtigkeit im Fall von Frederike herrscht. Ein Rechtsstreit, der über Jahrzehnte hinweg geführt und immer aussichtsloser wurde. Noch nicht einmal auf Schadensersatz konnte Frederikes Vater den Mörder seiner Tochter verklagen (Horst, 2022).
„Ist es richtig, den Grundsatz „ne bis in idem“ in der genannten Weise zu modifizieren oder sollte man das, den Bedenken des Bundespräsidenten folgend, nicht tun? Sollte man dem „unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß“, wie es bei der Anhörung im Bundestag hieß, begegnen?“ (Horster, 2022)
Eine grundlegende und ethische Frage, auf die so bald wahrscheinlich keine Antwort gefunden werden kann. Frederikes Vater starb im Juni 2022, wenige Wochen vor Prozessbeginn.
Geschrieben von Anna Röbe.
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https://www.spiegel.de/politik/lebenslang-freigesprochen-adf55c5b4-0002-0001-0000-000134660878?giftToken=a794d9f2-c977-4077-a905-736555d3d0aa
https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_103.html
https://www.detlef-horster.de/texte/ie.pdf
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Mordfall-Frederike-Was-ist-ein-Freispruchwert,mordfall198.html
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Mordfall Frederike-64-Jaehriger-darf-nicht-erneut-angeklagt-werden,frederike174.html
https://www.change.org/p/bmjv-bund-gerechtigkeit-f%C3%BCr-die-ermordete-frederike nachweislich-falsch-freigesprochene-mordtaten-verdienen-nicht-den-schutz-des-gesetzes-362-der-strafprozessordnung-muss-erg%C3%A4nzt-werden
https://dejure.org/gesetze/StPO/362.html