Wen wählen? Wer wird mit wem koalieren? Wer kann mit wem koalieren? Welche Wahlkampfversprechen lassen sich in der Folge noch umsetzen, welche werden tatsächlich über die Bühne gebracht? Was, wenn der Bundespräsident jeweilige Kanzlerkandidat: innen nicht angelobt und Spitzenkandidat: innen eines Wahlsiegers nicht mit der Regierungsbildung beauftragen will? Und wie realistisch sind überhaupt die kühnen Wahlkampfversprechen von ehemaligen oder aufstrebenden Volksparteien, deren Umfragewerte sich heutzutage eher im Bereich der 20% bewegen?
Wohin man nur schaut, eine fragmentierte Parteienlandschaft.
All diese Fragen stellen sich derzeit nicht nur vor den anstehenden österreichischen Nationalratswahlen. Sie treten in den letzten Jahren und Jahrzehnten in vielen europäischen Ländern immer wieder auf. Nach herben Verlusten seiner Fraktion in den EU-Wahlen vom 9. Juni zog der französische Präsident Emmanuel Macron die für 2027 angesetzten Parlamentswahlen vor.
Das Ergebnis: zwischen den radikalen Rechten des “Rassemblement National” (RN), den Zentristen seiner eigenen Liste und der Linken “Front Populaire” herrscht eine Pattsituation, aus der herauszufinden schwierig sein wird. In den Niederlanden zogen sich Koalitionsverhandlungen nach den Wahlen im November 2023 bis Mitte Mai diesen Jahres.
Einsamer Vorreiter ist natürlich Belgien. Hier, wo Koalitionsverhandlungen traditionell lange dauern, vergingen zwischen den Parlamentswahlen 2019 und der endgültigen Angelobung einer neuen Regierung ganze 600 Tage — geführt wurde es durch die Anfänge der Corona-Krise von einer Übergangsregierung.
Doch auch anderswo, wo Regierungen erfolgreich zusammenkommen, scheint die politische Zusammenarbeit erschwert. Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez zog im Juli 2023, nachdem die Parteien seiner sozialdemokratisch geführten Regierung in den wichtigen Regional- und Kommunalwahlen schlecht abschnitten, ebenfalls die Parlamentswahlen vor.
Er konnte nur dank Zugeständnisse an beinahe alle Akteur: innen außerhalb seiner politischen Gegner der konservativen “Partido Popular” (PP) und radikal-rechten “Vox” einen neuen Regierungsauftrag erhalten. Und zuletzt kann man in Deutschland zwar von einer erfolgreichen Regierungsbildung reden, doch bekannterweise ist es um die Zufriedenheit der Deutschen mit ihrer derzeitigen Ampel-Regierung beinahe historisch schlecht bestellt. Mehr als früher werden viele Parteien in die Parlamente gewählt, deren Programme sich deshalb nicht unbedingt näher stehen.
Erklärung: Die Grafik zeigt die Wahlergebnisse vergangener Nationalratswahlen von 1945 bis 2024. Dabei ist eine Fragmentierung der österreichischen Parteienlandschaft zu erkennen, mit einem Trend weg vom lange vorherrschenden Zwei-Parteien-System (SPÖ und ÖVP) hin zu einer vielfältigeren politischen Landschaft mit mehreren mittelgroßen Parteien.
Was sind politische Fragmentierung und Parteienvielfalt?
Grundlegend beschreibt der Begriff politische Fragmentierung Prozesse, aus denen die Aufteilung politischer Macht in mehr Hände als zuvor resultiert. Sie wird zu deutsch gerne auch als Parteienvielfalt oder Zersplitterung des Parteiensystems betitelt, wobei ersterem Begriff eine eindeutig positivere Konnotation innewohnt.
Eine solche Parteienvielfalt muss dem zuletzt in news.at zitierten Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik zufolge keinen politischen Stillstand herbeiführen, auch Szenarien wie zuletzt in der deutschen Ampel-Koalition seien nicht unbedingt vorprogrammiert. Regieren könne aufgrund der Notwendigkeit, mit mehr Seiten Kompromisse zu schließen teurer werden, aber nicht unbedingt ineffizienter. Ein mögliches Problem sei stattdessen die ideologische Heterogenität der sich entgegenstehenden Parteien.
Insgesamt, so wird zusätzlich die österreichische Politikwissenschaftlerin Katrin Prapotnik zitiert, handle es sich beim gegenwärtigen Trend zur Vervielfältigung der Parteienlandschaft um eine, in den Kontext anderer europäischen Länder einzuordnende, Normalisierungsbewegung.
Ähnliches lässt sich in den Überlegungen des Rechtswissenschaftlers Professor Thomas Oppermann wiederfinden. Dieser resümiert in einem 2012 gehaltenen Vortrag die Entwicklungen des deutschen Parteiensystems. Seine Beurteilung: die Parteienvielfalt sei in einem ersten Schritt als natürliche oder zumindest unvermeidliche Entwicklung hinzunehmen.
Die heutige Parteienvielfalt ist Ausdruck eines demokratisch auf der Grundlage verfassungsmäßiger Gesetze zustande gekommenen Wählerwillens. Diese Diversifizierung der Wählermeinungen reicht offensichtlich weit über die politischen Wahlen hinaus und entspricht einer tiefer liegenden Zeitströmung
– Oppermann 2012, S. 326
Darüber hinaus mahnt Oppermann gegen Polarisierungstendenzen zur Erhaltung eines kompromissbereiten politischen Geistes an. Unter diesen Umständen sei die Parteienvielfalt dann eben ein Produkt von Normalisierung deutscher und, so lässt sich ebenfalls hier einfügen, österreichischer Verhältnisse im europäischen Gesamtvergleich.
Doch wie in vielen der oben angeführten Ländern findet die Heterogenisierung der sich in Österreich entgegenstehenden Parteien gleichzeitig mit einer Polarisierung der politischen Debatte statt. Die Gangart ist rauer geworden, die Kompromissbereitschaft und auch der demokratische Geist haben in den letzten Jahren leiden müssen.
Die Politikverdrossenheit, die für neue Parteien Chancen bietet, werden wohl kaum allein von solchen, sondern vor allem von bereits etablierten Parteien wie der FPÖ, der AfD oder dem RN aufgefangen, die über die Jahre hinweg immer näher an den politischen Rand rücken. Sie lassen sich kaum ohne Heterogenisierung und Polarisierung denken.
Nennen wir das Phänomen beim Namen.
Reden wir bei der Parteienvielfalt von Normalisierungsprozessen, dann verkennen wir die Dimensionen des Problems. In jedem Fall sollten, anders als im news.at Artikel, die Gleichzeitigkeit von Parteienvielfalt bei zunehmender Heterogenisierung und Polarisierung erkannt werden.
Politische Fragmentierung, so argumentiert Philip Manow in einem 2023 erschienenen Bericht des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen, kann im Falle Deutschlands sehr wohl als verspätete Normalisierung gelesen werden. Doch sie sei weder harmlos, noch Ergebnis rein kulturellen oder wirtschaftlichen Wandels.
Ausschlaggebend, um beispielsweise die hohen Beliebtheitswerte der AfD, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, nicht nur auf dem Land, sondern auch in vielen Großstädten, und vor allem im wirtschaftsstärkeren Süden zu erklären, sei die Bezugnahme auf die große politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte, also vor allem die Dekonsolidierung des Nationalstaates im Gefolge fortschreitender Globalisierungsprozesse.
Vor allem die EU-Integration stelle nationalstaatliche politische Elemente vor unüberwindbare Herausforderungen, und potenzielle Rückschläge oder Scheitern an diesen wird von Bürger: innen dementsprechend an der Wahlurne quittiert. Lange seien die politisch und wirtschaftlich relativ stabilen Länder Deutschland und Österreich Gewinner der Globalisierung gewesen — ein Umstand, der mittlerweile in der Umkehrung begriffen ist.
Die Veränderungen der politischen Struktur werden hier als ebenso gravierende Dekonsolidierung erkannt wie die Formierung des 19. Jahrhundert einen gravierenden Einschnitt durch nationale Konsolidierungsprozesse bedeutete. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern holt man hier vielleicht nur auf, doch besonders rosige Aussichten verspricht der Trend zur politischen Fragmentierung keineswegs. Denn die neue Parteienvielfalt kommt, so lässt sich schon heute feststellen, mit einer Destabilisierung derjenigen politischen Verhältnisse einher, die uns in den westlichen liberalen Demokratien seit Ende des Zweiten Weltkrieges vertraut geworden sind.
Links & Quellen
- Manow, Philipp. 2023. Ein tief verunsichertes Land: Politische Fragmentierung und Polarisierung im Deutschland der Gegenwart. In: Études de I’fri.
- Oppermann, Thomas. Wachsende Parteienvielfalt in Deutschland und Europa – gut für die Demokratie? In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Bd. 60.