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Was macht Sprache mit unserem Denken?

Sprache ist so allgegenwärtig, dass wir meistens vergessen, dass sie überhaupt da ist. Wir müssen uns so selten Gedanken darüber machen, weil wir die meiste Zeit automatisch verstehen was wir meinen, wenn wir etwas sagen. Sprache ist der Wald, den wir vor lauter Bäumen nicht sehen. Aber immer, wenn wir miteinander reden, diskutieren und Meinungen bilden, sind wir auf Sprache angewiesen.

Gleichzeitig ist Sprache vielfältig – es gibt häufig mehr als eine Art, etwas zu sagen. Das zeigt sich besonders in Berichterstattungen über aktuelle politische Themen. Wenn es um die Themen Flucht und Migration geht, berichten Medien über „Flüchtlinge“, „Geflüchtete“, „Zufluchtsströme“ und „Flüchtlingsmassen“. Aber meint das nicht alles das Gleiche? Was für einen Unterschied machen diese Begriffe?

📣 Die Kognitive Linguistik ist eine junge Disziplin, die sich seit den 1970er-Jahren damit befasst, wie Sprache und Denken zusammenhängen. Sie beschäftigt sich u.a. mit folgenden Fragen: Wie funktioniert es, dass wir Sprache verstehen? Wie erwerben wir Sprache? Was passiert im Gehirn bei Sprachgebrauch?

Nach aktuellen Erkenntnissen der kognitiven Linguistik macht es einen großen Unterschied, wie wir etwas nennen. Denn wir verstehen Sprache mithilfe von sogenannten Frames, die bestimmen, wie wir über etwas denken. 

Was sind Frames?

Frames beinhalten das Wissen, das wir brauchen, um Sprache verstehen zu können. Denn wir verstehen Sprache immer nur, wenn wir das Gesagte mit Dingen verbinden können, die wir über die Welt wissen. 

Wir müssen also schon viel Vorwissen mitbringen, um überhaupt zu verstehen, was mit dem Gesagten gemeint ist. Nehmen wir zum Beispiel diesen Satz: Nachdem Hannah alle sieben Kerzen auf der Torte ausgeblasen hat und die Gäste ihr Geschenke überreicht haben, gibt es Limonade für alle.[1]

Was wissen wir über Hannah und warum? Wir verstehen intuitiv, dass Hannah ihren Geburtstag feiert, wissen wie alt sie ist und können uns vorstellen, was für Gäste und wie viele Gäste ungefähr anwesend sind. Das verstehen wir durch den Satz, weil wir Wissen darüber haben, was eine Geburtstagsparty ist und wie sie abläuft.

Dieses Wissen ist in Frames organisiert: Bestimmte Worte in diesem Satz (Kerzen, Torte, Geschenke, Gäste) aktivieren den Frame Geburtstagsparty, was wir brauchen, um den Satz überhaupt zu verstehen. 

Ohne das Wissen über Geburtstagspartys kann unser Gehirn den Frame nicht aktivieren und wir würden den Satz nicht mehr so einfach verstehen. Wir würden uns fragen, warum sieben Kerzen auf einer Torte sind, warum Hannah Geschenke bekommt und wer alles Limonade bekommt.

Ganz kurz gesagt heißt das: Unsere Gehirne aktivieren Frames, um sprachliche Äußerungen verstehen zu können. Sie wecken sozusagen Wissen über die Welt, das du brauchst, um dich sprachlich verständigen zu können.

Was für einen Unterschied macht es wie wir etwas nennen? 

Je nachdem wie wir etwas bezeichnen, werden unterschiedliche Frames aufgerufen – wir verstehen etwas anders und denken anders darüber. Das liegt vor allem daran, dass Frames bestimmte Aspekte hervorheben und dadurch andere verstecken.

Wenn zum Beispiel über Zuwanderungsströme, eine sich nähernde Flüchtlingswelle oder gar Flüchtlingsflut berichtet wird, werden Menschen auf der Flucht über den Frame Wassermassen begreifbar gemacht. Dadurch wird besonders betont, dass es sich bei den Geflüchteten um eine große Anzahl handelt – so groß, dass sie nicht mehr in individuellen Personen zählbar sei.

Dieser Frame stellt gleichzeitig die Einwanderungsländer, also die westlichen Nationen, als potentielle Opfer von unberechenbaren und zerstörerischen Wassermassen dar. Denn Wassermassen sind sowohl unkontrollierbar als auch ziellos.

Diese Ausdrucksweise lässt also wenig Raum, um über Geflüchtete als Individuen zu denken, die Menschen wie wir sind. Menschen, die sich um ihre Familien sorgen, Angst vor (staatlicher) Gewalt haben und sich eine sichere und bessere Zukunft wünschen. 

Aber Sprechen ist doch nicht gleich Denken? 

Aktuelle Studien aus der kognitiven Linguistik können über Gehirn-Scans zeigen, dass Frames mit neuronalen Strukturen verbunden sind [2]: Je häufiger wir etwas mit einem bestimmten Frame begreifbar machen, desto stärker werden die dafür gleichzeitig aktivierten neuronalen Verbindungen.

Das kann man sich vorstellen wie Wege, über die Autos fahren: Wenn auf einem schmalen Schotterpfad ab und zu ein Auto fährt, dann bleibt es ein schmaler Schotterpfad, den wir nur ungern befahren, weil er unbequem und mühsam ist. Wenn auf diesem Pfad aber ein Auto nach dem anderen fährt, so wird es bald kein schmaler Pfad mehr sein, sondern eine große, breite und plattgefahrene Straße. Alles in allem also leicht und bequem befahrbar.

Eben diese bequem befahrbaren Verbindungen sind die gedanklichen Autobahnen, geprägt durch die Wiederholung von Frames. Je mehr wir etwas auf bestimmte Weise framen, desto mehr wird dieses Framing zum Standard, wie wir über etwas denken. Wenn wir also über Geflüchtete als Wassermassen sprechen, wird dies der Standard, um über Flucht zu sprechen.

Linguistik - Was macht Sprache mit unserem Denken? // Pexels
Linguistik – Was macht Sprache mit unserem Denken? // Pexels

Ist das alles Manipulation?

Die Verwendung von bestimmten Frames ist trotzdem nicht zwingend Manipulation. Denn nach aktuellem Forschungsstand in der kognitiven Linguistik kommen wir nicht umher zu framen: Framing ist der Prozess, den unsere Gehirne automatisch anstoßen, um Sprache überhaupt verstehen zu können.

Sprache kann also nie neutral oder objektiv sein, weil wir sie über Frames verstehen und vor unseren individuellen Weltansichten interpretieren. Aber dennoch ist politische Berichterstattung von unterschiedlichen Verständnissen darüber geprägt, wie die Welt aussehen soll.

Dementsprechend werden strittige Themen so geframed, dass sie der eigenen Haltung bestmöglich entsprechen – und wie wir über etwas reden und denken bleibt in einer demokratischen Gesellschaft nie ohne Konsequenz. Wenn wir Geflüchtete als Wassermassen begreifen, ermöglicht das andere politische Konsequenzen, als wenn wir sie als Menschen in Not begreifen[3].

Denn was machen wir bei einer drohenden Flut? Wir schützen uns! Wir errichten Dämme, versiegeln Türen und legen Sandsäcke, um es den Wassermassen so schwer wie möglich zu machen, an uns heranzukommen.

Wenn wir diese abschottenden Maßnahmen nicht treffen, laufen wir Gefahr zu ertrinken. Wir als Bewohner*innen sind hier die Opfer, die aus Selbstschutz handeln und die Mauern erhöhen.

Geflüchtete oder Wassermassen: Wie sollten wir Sprache gebrauchen?

Alles, was Menschen auf der Flucht über den Frame von Wassermassen begreifbar macht, blendet individuelle Schicksale aus. Es lässt uns Geflüchtete kollektiv als potentielle Gefahr wahrnehmen, vor der wir uns in Acht nehmen müssen.

Das Sprechen legt hier also eine gewisse Art zu denken nahe und ermöglicht dadurch gleichzeitig gewisse politische Handlungen: Wenn wir Geflüchtete als Gefahr interpretieren, dann ist es die politische Pflicht, die Bevölkerung zu schützen – durch höhere Dämme, Mauern und ohne Rücksicht auf die Gefährdung, denn Wassermassen können nichts fühlen. Wenn wir über Geflüchtete ausschließlich als Individuen in Not sprechen würden, wäre die Idee von höheren Mauern und Abschottung abwegig.

Es lohnt sich also, mit offenen Augen durch die Medien zu gehen und den Sprachgebrauch genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir sollten uns ab und zu die Zeit nehmen, darüber nachzudenken, welche Ansichten in den verwendeten Begriffen eigentlich „drinstecken“ und ob wir diese Haltung teilen.

Wenn wir über Geflüchtete als Individuen in einer Notlage denken, dann sollten wir den Frame von Wassermassen hier keinesfalls verwenden. Indem wir auf unsere Sprache achten, tragen wir als Bürger*innen ein Stück dazu bei, demokratische Möglichkeiten zu prägen, über die Welt nachzudenken.

Fußnoten & weitere Infos

[1] Für eine ausführliche Analyse dieses Beispiels: Ziem, Alexander. 2008. Frames und sprachliches Wissen: Kognitive Aspekte der semantischen Kompetenz (Sprache und Wissen 2). Berlin, New York: De Gruyter.

[2] Zum Nachlesen: Lakoff, George. 2014. Mapping the Brain’s Metaphor Circuitry: Metaphorical Thought in Everyday Reason. Frontiers in Human Neuroscience (8). 1–14.

[3] Böke, Karin. 1997. Die „Invasion“ aus den „Armenhäusern Europas“: Metaphern im Einwanderungsdiskurs. In Jung, Matthias, Martin Wengeler & Karin Böke (Hgg.), Die Sprache des Migrationsdiskurses: Das Reden über „Ausländer“ in Medien, Politik und Alltag, 164–193. Opladen: Westdeutscher.