„Die Message ist Love. Egal wer verdammt nochmal du bist. Und ganz egal woher du kommst.“ – Das habe ich in Jamaika gelernt

Jamaika Reisebericht von Sebastian

Jamaika // floomedia

Die erste Jamaika-Reise ist wohl für jeden Reggae-Fan ein besonderes Erlebnis. Dabei vier Tage in Maroon Town in den Bergen bei alten Freunden von Uni-Professoren zu verbringen, mit Rastas zu diskutieren und Maroon-Geschichte zu lernen, war prägend.

Jamaika – Tag 1

Leon, ein 61-jähriger Rasta-Maroon, holt mich in Montego Bay ab und wir fahren ca. eine Stunde in die Berge nach Maroon Town, am Rande des Cockpit Country, einer dicht von Regenwald bewachsenen Hügellandschaft im Landesinneren.

Jamaika Karte - Montego Bay und Montego Bay
Jamaika // Kartendaten: Google, Grafik: Simon

Schon auf der Fahrt bekomme ich das Gefühl, in den nächsten Tagen eine komplett andere Seite von Jamaika kennenzulernen, als zuvor in Kingston. Die schmale Straße ist voller Schlaglöcher. Ein kleiner Shop kurz hinter Montego Bay, eine Tankstelle auf halbem Weg – sonst gibt es nicht viel. Wir fahren durch das Zentrum von Maroon Town, dann noch ein Stück weiter in die Berge. Rechts der Straße geht es steil nach oben, links genauso steil hinab, alles sehr stark bewachsen. Nach der Steigung öffnet sich die Sicht auf eine Ebene, dahinter Ausläufer der Hügellandschaft. Eine atemberaubende Aussicht!

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Jamaika – Ausblick Maroon Town // Foto: ©️Sebastian

Während der Fahrt diskutieren wir über die vermeintliche „Entdeckung“ der „Neuen Welt“ durch Kolumbus (den „damn blasted liar“, wie Burning Spear schon 1980 sang), die Geschichte der Maroons und damit auch über die Kolonialgeschichte Jamaikas.

Geschichte

Als die Briten 1655 die Insel von den Spaniern eroberten, nutzten einige Sklav:innen die Situation, um auszubrechen, andere wurden von den Spaniern „befreit“, damit sie gegen die Briten kämpfen. Die Maroons – benannt nach dem spanischen Wort cimarrón für wild – überfielen regelmäßig Plantagen der Briten, wobei sich ihnen neue Sklav:innen anschlossen. Das führte zu den zwei großen Maroon-Kriegen, bei denen sich die Maroons mit Guerillataktiken erfolgreich zur Wehr setzten.

Nach dem ersten „Maroon War“ wurde 1739 ein Friedensvertrag ausgehandelt, durch den die Leeward Maroons im Westen der Insel unter Cudjoes Führung rund um das Cockpit Country weitgehende Autonomie erwirkten und quasi einen „Staat im Staat“ bildeten. 1795 kam es zum zweiten „Maroon War“. Als die Maroons in einen Waffenstillstand einwilligten, um – wie sie dachten – erneut ein Abkommen auszuhandeln, wurden einige von ihnen zunächst nach Nova Scotia in Kanada deportiert. Dort waren sie unzufrieden und ersuchten regelmäßig darum, an einen anderen Ort gebracht zu werden. Um 1800 wurden sie dann nach Sierra Leone gebracht.

Nachdem sie auch dort nicht mehr zufrieden waren, hauptsächlich wegen der immer höheren Konkurrenz um Arbeitsplätze, kehrten in den 1830er-Jahren nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im britischen Empire einige von ihnen schließlich als freie Arbeiter:innen nach Jamaika zurück und ließen sich erneut in der Gegend um Maroon Town nieder.

Der Status als „Staat im Staat“ machte Anfang des Jahres Schlagzeilen, als Jamaikas Premierminister Andrew Holness selbigen in Frage stellte und Jamaika als unabhängigen Staat bezeichnete, in dem es nur eine politische Führung gibt – seine Regierung. Bei den Maroons kam das nicht gut an. Kritik und Skepsis gegenüber dem postkolonialen Staat Jamaika sind nach wie vor in der Überzeugung der Maroons verankert, bei Leon allemal:

Wie kann der Premierminister von einem unabhängigen souveränen Staat sprechen, wenn Jamaika immer noch Teil des Commonwealth mit der Queen als Staatsoberhaupt ist?!

– Leon

Bei Leon angekommen werde ich überaus herzlich von seiner Frau Donna, ihren Kindern und Enkelkindern empfangen. Am Anfang der Straße befindet sich ein kleiner Shop/Bar, den die beiden betreiben. Den Hang hinunter geht es über Stufen zu Leons und Donnas Haus. Wir setzen uns auf die Veranda und ich packe meine Gastgeschenke aus: einige der letzten RIDDIM-Ausgaben und – wie es sich für einen Wiener gehört – Mannerschnitten, die den Abend nicht überleben.

Leon und Donna sind Farmer, außerdem baut Leon Häuser und verdient so sein Geld, manchmal hilft er aber auch seinen Nachbarn aus. Alle Häuser in der Community wurden von ihm errichtet, bunte, kleine, einstöckige Häuser mit Wellblechdach – fast alle nur zwei bis drei Zimmer. Auch das Haus seines Stiefsohnes gegenüber seinem eigenen, das die beste Aussicht vom Hang in Richtung der Hügel bietet und für die nächsten Tage meine Unterkunft ist.

Am Abend steht zur Geräuschkulisse – aus dem Wald hört man Vögel, Frösche und Zikaden – die nächste Reasoning-Runde an. Zu diesen Geräuschen legt man sich dann auch schlafen, die Wände ändern da wenig. Das macht die Maroon Town-Erfahrung nochmal ein Stück besonderer.

Respekt und Gleichwertigkeit aller Menschen spielen in Maroon Town und bei Leon eine wesentliche Rolle:

Wie kann ein Mensch durch die Welt gehen und glauben, besser zu sein als andere, wenn wir alle von der Natur erschaffen sind? Du kannst nicht größer als die Natur und alles von ihr Erschaffene sein.

– Leon

Die Bedeutung von Respekt zeigt sich auch im Alltag: „Respektier Grund und Eigentum anderer Menschen. Betrete kein fremdes Grundstück, stiehl nicht, habe Respekt vor anderen!“ Tatsächlich gibt es kaum Kriminalität. Anders als in den Städten sind die Grundstücke nicht umzäunt, Türen und Fenster nicht vergittert. Die Menschen respektieren den Besitz anderer, Diebstahl gibt es im Grunde nicht.

Jamaika – Tag 2

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Jamaika – Earthstrong Breakfast // Foto: ©️Sebastian

Am nächsten Tag fährt mich Leons Stiefsohn Boysie zum Sightseeing herum. „Bonxx“, wie er sich als Trap-Artist nennt, spielt mir im Auto seinen neuen Song „Proud“ vor, den er seiner Mutter gewidmet hat. „Mummy, mi ago make you proud!“, klingt es aus den Lautsprechern, Boysie singt mit.

In Flagstaff, dem östlichen Teil von Maroon Town, zeigt er mir das Heritage Center. Im offenen Dachstuhl informieren Infotafeln über die Geschichte der Maroons in der Gegend. Dahinter hat man einen direkten Blick auf Gun Hill, ein steiler Kalksteinhügel, der den Maroons früher als Aussichtspunkt mit Sicht bis zur Küste bei Falmouth gute 20 Kilometer nordöstlich diente.

Ich werd‘ mit dir nicht zu Fuß da raufgehen. Mein Stiefvater würde das sicher machen, aber ich fahr lieber mit dem Auto und da gibt’s keine Straße hoch

– Boysie

– lacht Boysie. Anschließend fahren wir zu Boysies Freunden in der Nähe, genießen mit Blick auf die Landschaft frische Jackfruit und rauchen den einen oder anderen Spliff. Mein Patois stößt zwar immer wieder an seine Grenzen, weshalb ich nicht jeden ihrer Scherze verstehe, aber das macht nichts. Freundliche Menschen, frisches Obst und die Aussicht über das Cockpit Country mit seinem dichten Regenwald und den steilen Hügeln – mehr braucht’s nicht zum glücklich sein.

Jamaika – Tag 3

Am dritten Tag steht mein erster Ausflug in den Dschungel auf dem Programm. Über schmale ausgetretene Pfade entlang der steilen Hügel folge ich Leon zur Bat Cave. Die Sonne scheint zwar durch die Bäume, doch durch die täglichen Regenfälle trocknet der Wald nicht aus, was zu enorm hoher Luftfeuchtigkeit führt, mit der ich erst einmal klarkommen muss.

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Jamaika – Regen // Foto: ©️Sebastian

Bat Cave bot den Maroons der Gegend früher Platz, um sich vor den Briten zu verschanzen, und bietet sogar frisch durch das Gestein gefiltertes Trinkwasser. Auch heute ist die Höhle nicht unwichtig in der Gegend: Wo Fledermäuse sind, und von denen gibt’s in der Höhle genug, sind deren Hinterlassenschaften auch nicht weit. Und die sind ein hervorragender Dünger, unter anderem für Weed.

Leon spaziert durch den Wald, als wäre es sein morgendlicher Gang zur Kaffeemaschine. Er kennt die Wege seit er laufen kann. Verschwitzt wie nach einem Marathon gebe ich zehn Meter dahinter mein Bestes, Schritt zu halten, und vor allem nicht auf der feuchten Erde auszurutschen. Gut, dass wir nicht auf dem Gun Hill waren: „Dort wärst du mit deinen Sneakers Ski gefahren.“ Ich werde dazu angehalten, keine Pflanzen zu berühren:

Siehst du den Busch dort? Wenn du den anfasst, fühlt es sich an, als würde deine Haut brennen.

– Leon

Im Wald wächst viel Blue Mahoe, Jamaikas Nationalbaum. Das Holz der Bäume ist recht widerstandsfähig und wird daher oft für Möbel verwendet. Betten, Sessel, Schränke – bei Leon ist viel Blue Mahoe verarbeitet.

Jamaika – Tag 4

Am letzten Abend gibt es wieder ein Reasoning mit Leon. Ich habe schon einiges über Rastafari gelesen und kenne die wesentlichen Überzeugungen. Sie live vor der Kulisse des Dschungels im Austausch mit Leon zu erleben, erreicht mich nochmal auf einem anderen Level. Was ich von Leon lernen und vor allem mit ihm erleben durfte wird mich so schnell nicht wieder loslassen:

Die Message ist Love. Egal wer verdammt nochmal du bist. Und ganz egal woher du kommst.

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Jamaika – Sebastian & Leon // Foto: ©️Sebastian

Solche Botschaften hat wohl jede:r schon mal in Reggae-Songs gehört. Doch diese Einsichten von Angesicht zu Angesicht zu hören, von jemandem, der mich vor wenigen Tagen noch nicht kannte, dessen Familie mich aufgenommen hat, als wäre ich Teil davon, ist bewegend. Zu erleben, dass selbst in so einfachen Sätzen tiefgreifende Überzeugungen verankert sind, die täglich gelebt werden, gibt meinem Verständnis von Rastafari eine noch tiefere Dimension.

Ich glaube an One Love. Und ich bin radikal. Aber nur in meiner Ablehnung von Negativität.

Diese Sätze – gesprochen nur eine Woche vor der Invasion Russlands in der Ukraine – sollte sich wohl jede:r zu Herzen nehmen. Die Philosophie von Rastafari, ausgehend von Respekt, Anerkennung, Wertschätzung, Equal Rights & Justice, Freiheit und Einheit hätte – in meinen Augen – das Potenzial, nicht nur von Frieden zu reden, sondern ihn auch zu bewirken.

Gastartikel von Sebastian – bester Mann